Was geschieht in Systemaufstellungen

Innere Bilder und Sinnstiftung

Unter Familienaufstellern werden gerne Konzepte wie „wissendes Feld“, „Bewegungen der Seele bzw. des Geistes“, „Ordnungen der Liebe“ oder „Grundprinzipien des Systemerhalts“  verwendet. All diesen Begriffen liegt die Vorstellung zu Grunde, dass in der Aufstellung übergeordnete Instanzen oder eherne Gesetze wirken, welche die Wahrheit ans Licht bringen. Wenn es um existentielle Lebensfragen geht,  vertrauen sich viele Menschen gerne einer höheren Macht an. Geht es aber um Fragen des Managements, wird meist erwartet, dass die angebotenen Methoden wissenschaftlich fundiert sind - was immer man auch darunter verstehen mag. Ich will also einige der erklärungsbedürftigen Phänomene, denen wir in Systemaufstellungen begegnen, unter die Lupe nehmen und aufzeigen, welche Erklärungsansätze uns die Wissenschaft bietet.

Innere Bilder und implizites Wissen

Erklärungsbedürftig ist schon allein die Tatsache, dass die Kunden mühelos den „richtigen“ Platz für jedes Element finden. Für dieses Phänomen gibt die Gehirnforschung eine plausible Erklärung. Gerald Hüther überschreibt in seinem Buch „Die Macht der inneren Bilder“ (2009) einige Kapitel mit folgenden Titeln: Bilder strukturieren das Gehirn - Bilder lenken die Wahrnehmung - Bilder bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln - Bilder prägen das Zusammenleben. Wenn wir die Verschaltungen der Nervenzellen in unserem Gehirn als Bilder begreifen, dann scheint es nicht verwunderlich, dass wir diese Bilder auch in der Außenwelt darstellen können.

Die meisten Kunden sind aber überrascht, dass das aufgestellte Bild etwas zum Ausdruck bringt, an das sie vorher nicht gedacht hatten und ihnen dennoch als stimmig erscheint. Dass unser Handeln auch von einem impliziten Wissen gelenkt wird, das wir nicht in Worte fassen können, hat Michael Polanyi  in seinem Buch „The tacit dimension“ schon 1966 beschrieben und auch die neuere Hirnforschung bestätigt, dass die meisten Vernetzungen in unserem Gehirn nur dann bewusst werden, wenn sie durch entsprechende Erregungsmuster, aktiviert werden (Sh. Joahim Bauer, „Warum ich fühle, was du fühlst“). Durch die Aufstellung können wir offensichtlich bestimmte Vernetzungsmuster unserer Nervenzellen aktivieren und bewusst machen, die als „stilles“ Wissen unser Handeln lenken. Wie aber gelingt es, genau jene Bilder zu aktivieren, welche für die Lösung des Problems entscheidend sind? 

Mentale Modelle

Ich bin überzeugt, dass das Modell, welches der Berater implizit oder explizit verwendet, um die Situation des Kunden zu erfassen und die Elemente für die Aufstellung zu wählen und zu benennen, ganz entscheidend mitbestimmt, welche inneren Bilder aktiviert werden. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf Aspekte und kausale Verbindungen, an die der Kunde noch nicht gedacht hatte oder stellt diese in einen neuen Kontext. Auch der Familienaufsteller verwendet Modelle, die seinen Konzepten von Verstrickung, Ordnungen der Liebe usw. entsprechen und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf Ereignisse in der Familie und aktiviert entsprechende Muster. Ich wage zu behaupten, dass das von Matthias Varga von Kibèd beschriebene Phänomen des Strukturebenenwechsels durch ein entsprechendes Denkmodell des Aufstellers ausgelöst wird und nicht einfach „von selbst“ in der Aufstellung auftaucht.

Präsenz, Resonanz und Intention

Einer der wichtigsten Faktoren, die den Verlauf einer Aufstellung beeinflussen, ist die Resonanz zwischen Berater und Kunden. Diese kann sich einstellen, wenn der Berater mit seiner Präsenz und Aufmerksamkeit einen entsprechenden Raum schafft. Durch die Resonanz können sich dann blockierte körperliche und psychische Prozesse lösen und entfalten. Die Präsenz ist aber nie neutral, sondern eng mit der Intention des Beraters sowie des Kunden gekoppelt und die Intention bestimmt ganz wesentlich den Verlauf der Aufstellung.

Wenn ich von manchen Kollegen höre, sie folgten einfach nur dem, was die Aufstellung zeigt, so erinnere ich mich an die Experimente von Jan Jacob Stam, die deutlich zeigen, welchen Einfluss sogar die unausgesprochene Intention des Beraters auf das Befinden der Stellvertreter hat. Wenn man dann noch an die zahlreichen Interventionen des Aufstellers denkt, die unweigerlich einer Intention folgen, so fällt es schwer, die Vorstellung aufrechtzuhalten, allein das „wissende Feld“ lenke das Geschehen. Sicher entsteht zwischen Kunde, Berater und Stellvertretern etwas, was wir mit der Metapher des Feldes gut beschreiben können. Ich begreife dies aber als einen Ko-kreativen Prozess in dem durch die Resonanz der Beteiligten und der Verschränkung ihres impliziten und expliziten Wissens etwas Neues entsteht. 

Repräsentierende Wahrnehmung und somatische Marker

Ein weiteres erklärungsbedürftiges Phänomen sind die emotionalen und körperlichen Reaktionen der Stellvertreter, die allgemein als „repräsentierende Wahrnehmung“ bezeichnet werden. Man ist oft überrascht, wie gut diese zur Situation des Kunden passen und fragt sich, woher die Repräsentanten ihre Informationen beziehen. „Was in der Aufstellung wirkt, kommt wie von außen und kann nicht auf Inneres, Bewusstsein, persönliche Information, individuelles Gefühl oder Verhalten zurückgeführt werden …“ schreibt Jakob Schneider in einem Artikel in der Praxis der Systemaufstellungen 1/2008.  Dieses „von außen“ wird von vielen Aufstellern als (wissendes) Feld bezeichnet. Allerdings wirft dieses Konzept meiner Meinung nach mehr Fragen auf, als es beantwortet.

Um das Phänomen der „repräsentierenden Wahrnehmung“ zu erkunden können wir die Frage: „Woher beziehen die Stellvertreter ihr Wissen?“ durch zwei andere Fragen ersetzen: „Wie kommt die Reaktion der Stellvertreter zustande?“ und „Wie kommt es, dass Kunde und Berater diese Reaktionen als sinnvoll und bedeutend für das Anliegen erleben?“
Zwei Theorien, die in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt wurden, geben uns dazu interessante Einblicke. „Ein geniales Design der Natur – Neurobiologie und Aufstellungsarbeit“ Freda Eidmann/Gerald Hüther Heft 1/2008 und „Aufstellungsarbeit als Sensemaking“ Claude Rosselet/Georg Senoner Heft 1/2010.
 
Die Neurobiologie erklärt, dass emotionale Muster, die an körperliche Reaktionen gekoppelt sind, – auch „somatische Marker genannt“ - immer dann wieder ausgelöst werden, wenn die gegenwärtig erlebte Situation einem gespeicherten Erlebnis ähnelt.  Wir können uns also vorstellen, dass durch die Strukturähnlichkeit der Aufstellungskonstellation mit Mustern, die der Stellvertreter in seinem Hirn gespeichert hat, „somatische Marker“ aktiviert werden. Ein Teil der gespeicherten Muster bilden eine „Basismatrix“ in welcher die bereits vorgeburtlich gemachte Erfahrung  der Vereinbarkeit von Wachstum und Bindung kondensiert ist, die uns zeitlebens befähigt wiederzuerkennen, wie es sich körperlich anfühlt, wenn etwas „richtig“, also sowohl mit dem Bedürfnis nach Bindung, als auch nach Autonomie vereinbar ist.

Sinnstiftung

Folgen wir der Theorie des „Sensemaking“, so können wir das ganze Aufstellungsgeschehen als mehrdeutiges „Rohgerede“ verstehen, aus dessen Fülle der Kunde und der Berater einzelne Hinweise selektieren, um diese mit ihren gespeicherten Erfahrungen und Theorien zu verknüpfen und eine sinnvolle, eindeutige Erklärung für die aufgestellte Situation zu konstruieren. Wir können uns also vorstellen, dass die Aussagen der Stellvertreter lediglich das Rohmaterial für einen Sinnstiftungsprozess liefern, der aktiviertes implizites Wissen mit explizitem verknüpft und in eine neue Geschichte einbindet, die Sinn macht und Orientierung gibt. 

Die richtige Lösung oder ein nächster Schritt

In einer Systemaufstellung geht (zumindest implizit) die Aufforderung an die Stellvertreter: „Sucht euch einen guten Platz!“ Folglich ist es nicht verwunderlich, dass nach einiger Zeit alle mehr oder weniger erleichtert und zufrieden sind. Woher wissen wir aber, dass die Erkenntnisse aus der Aufstellung auch im Alltag des Kunden gültig sind?

Laut Karl Weick entsteht ein Problem, wenn wir aus unserem Lebensstrom gerissen werden, weil unsere gespeicherten Verhaltensmuster nicht die erwartete Wirkung erzeugen. Wir halten inne und versuchen die neuen Erfahrungen mit den gespeicherten Theorien in Einklang zu bringen. Dabei geht es uns nicht  um Genauigkeit, sondern vielmehr um Plausibilität, welche uns durch die Reaktionen des sozialen Umfelds bestätigt wird. Eine Lösung besteht also in einer plausiblen Erklärung, die uns ermöglicht, wieder vertrauensvoll in den Lebensstrom einzutauchen, den nächsten Schritt zu wagen und dabei unserer Identität zu bewahren.

Wahre oder erfundene Geschichten

In welchem Sinne sind die Erkenntnisse, die wir aus einer Systemaufstellung schöpfen, wahr?  Ist es wesentlich, dass wir die wahren Geschehnisse kennen, oder geht es eigentlich nur darum, dass wir unsere Erlebnisse und Emotionen in eine sinnvolle Ordnung bringen und dazu eine plausible Geschichte (er)finden, die uns Vertrauen, Mut und Orientierung gibt?

„In Aufstellungen zeigen sich Kräfte, die sich jeder Subjektivierung und Objektivierung entziehen“, schreibt Jakob Schneider (Praxis 1/2008).  Ich respektiere diese Sichtweise und dennoch ist es mein Bestreben, das was ich in Aufstellungen erlebe, soweit als möglich zu subjektivieren und zu objektivieren. Wenn er weiter schreibt: „Was sich in Aufstellungen zeigt ist uns vorgegeben …“, so kann ich damit insofern einverstanden sein, als ich mich als Teil unserer Welt begreife und anerkenne, dass ich nur in dieser Welt, mit ihren Gesetzen und Zufällen, die uns vorgegeben sind, mein Leben gestalten kann.

Ich verstehe die Aufstellung als einen ko-kreativen Prozess, in dem wir gemeinsam einen neuen, adäquaten Umgang mit der dargestellten Situation simulieren. Wir entwickeln sozusagen einen Prototyp für ein neues Verhaltensmuster. Wir gestalten und simulieren gemeinsam eine Sequenz unseres Lebens und geben dieser einen Sinn.

Wenn dies gelingt, erlebe ich es als Wahrheit … und oft auch als Wunder. 

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